Vom Fuße der Alb bis zum Dach der Welt – über die Lehren des Himalaya, über die ehrwürdige Yeshe Kandro und über mich.

Wir wohnten in einem kleinen, unaufgeregten Dorf am Fuße der schwäbischen Alb. Wenige Tage vor meinem 14. Geburtstag – es war im Oktober – erreichte eine Gruppe Tibetischer Männer und Frauen unser Haus am Ende der Straße. Unter ihnen war ein junger Mann, gekleidet in ein außergewöhnliches, rotes Gewand. Er dürfte nicht älter als Anfang 20 gewesen sein. Seine Ausstrahlung war bewundernswert, stark – geheimnisvoll. Ein Tibetischer Arzt aus Indien – die 8. Reinkarnation des ehrwürdigen Lama Nyentse, wie mir damals erklärt wurde. Ein Tibetischer Arzt und Astrologe. Auf Einladung seiner Schüler kam er nach Deutschland, um in Tibetischer Medizin zu unterrichten und um die hohen spirituellen Lehren des Himalaya in den Westen zu tragen. So kam er auch in unser Haus – und blieb für eine Zeit. 

Im Frühjahr 2000 besuchte meine Mutter Li für mehrere Wochen ein medizinisches Zentrum in Indien, um von einem Tibetischen Arzt die Grundlagen der Tibetischen Medizin zu erlernen. Weil sie bis dahin selbst schon viele Jahre mit der Homöopathie arbeitete und ganzheitliche Naturheilverfahren anwandte, lag es nahe, dass sie sich auch für die Tibetische Medizin interessierte.

Vor Ort lernte sie den Tibetischen Arzt und Astrologe Tulku Lobsang Rinpoche kennen und lernte zusammen in einer kleinen Gruppe von ’Westlern’ von ihm über die Tibetische Medizin und deren Traditionen. Als Tulku Lobsang Rinpoche von Lu Jong erzählte und mit ihnen die Übungen praktizierte, erkannte Li als eine seiner ersten Schülerin aus dem Westen den unfassbaren Wert dieser Übungen und welchen hohen Nutzen sie für die Menschen hier haben könnten. Sie hatte die Idee, die Lu Jong Übungen in einem Buch zusammen zu fassen und diese effektiven Übungen den Menschen hier als eine Lu Jong ’Hausapotheke’ zur Verfügung zu stellen. Je nach Beschwerde, sollte eine passende Übung im Buch nachgeschlagen werden können. Es entstand die Idee, den gesundheitlichen Nutzen von Lu Jong auf diese Weise für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen.

Zu dieser Zeit gründete Li das ’Lotushaus’ – ein Zentrum für Tibetische Heilkunst und öffnete damit unser Haus am Ende der Straße für alle, die Interesse an Lu Jong, an der Tibetischen Medizin und an dem Erhalt der Tibetischen Kultur zeigten. Ihr Wunsch war es, die alten Lehren Tibets weiterzugeben, damit sie für alle fühlenden Lebewesen von großem Nutzen sein können.

Tulku Lobsang Rinpoche kam von nun an jährlich in unser Haus. Immer im Oktober – immer in der Woche um meinem Geburtstag. Er hielt Vorträge, gab Konsultationen und stellte Pulsdiagnosen. Während dieser Zeit kamen viele Menschen in das Lotushaus und trugen die Intension bereichernd mit. Selbstverständlich wurde Lu Jong gelehrt, ergänzend dazu wurden Therapieverfahren aus der Tibetischen Medizin angewandt, wie zum Beispiel die Tibetische Heilmassage. Die Stimmung war warm, friedlich – erwartungsvoll. Überall im Haus duftete es nach Räucherwerk und nach dem unverkennbar süßlich-herben Geruch der Moxa-Zigarren. Ich erinnere mich, dass unsere Küche zur Mittagszeit Mittelpunkt für ausgelassene Gespräche, hitzige Diskussionen und lautes Lachen war. Ich erinnere mich an Buttertee und Momos (unglaublich leckere, gefüllte Teigtaschen, welche in einem Dampftopf gegart werden). Stundenlang köchelte Ghee in einer Pfanne und Tibetische sowie Indische Frauen bereiteten herrliche Mahlzeiten zu, welche anschließend an einem großen Tisch dankend verspeist wurden. Am Abend wurden Pujas mit geführten Meditationen angeboten. Das Leben war mit all seinen Facetten spürbar.

Im Sommer 2003 stellten dann Tulku Lobsang Rinpoche mit Loten Dahortsang aus dem Tibet-Institut Rikon, welcher mit seiner Übersetzung an diesem Buch großartige Arbeit leistete, gemeinsam mit Li das vollendete kleine rote Buch ‚Lu Jong – älteste Tibetische Bewegungslehre von den Mönchen aus den Bergen zur Heilung von Körper und Geist’ auf der Frankfurter Buchmesse vor.

Im darauf folgenden Sommer wurde Li von dem ehrwürdigen Lama Lodrö Tulku Rinpoche im Ganden Chökhor – einem Chöd- und Meditationszentrum – in Chursalden, Schweiz zur Tibetisch Buddhistischen Nonne ordiniert. Sie erhielt den Namen ’Yeshe Kandro’, ’die zwischen den Welten wandelt’.

Bis zu ihrem Übergang gründete sie den Verlag ’Dharmata Edition’, sie sang die LPs ’Healing Mantras’ und ’Tibetan Mantras’, sie startete die Gründung einer Tibetischen Mädchenschule in der Region Amdo, Tibet und initiierte das Buch ’das Geheimnis der 1000 Blumen’ – ein Buch über Tibetische Arzneimittel.

Sommer 2018 – Lu Jong Ausbildung mit Loten Dahortsang – Toskana, Italien

12 Jahre später suchte ich Loten Dahortsang in Rikon auf. Ich bat ihn mir ebenfalls Lu Jong zu lernen. Er willigte ein, ließ mich jedoch einen Sommer lang gewähren, um zu sehen ob mein Interesse wahrer Natur ist. Im Sommer 2018 folgte ich voll innerem Tatendrang seiner Einladung in die Toskana und nahm an der Lu Jong Lehrer-Ausbildung teil. Dort lernte ich alle Übungen und arbeitete mich in umfangreiches, altes Wissen der Tibetischen Tradition ein. Bis zum darauf folgenden Frühjahr vertiefte ich mich in die kostbaren Lehren und praktizierte weiterhin leidenschaftlich Lu Jong.

Im Frühjahr 2019 fand durch Tulku Lobsang Rinpoche die Zertifizierung der angehenden Lu Jong Lehrer statt. Er gab uns letzte Unterweisungen und schließlich seinen Segen Lu Jong weiterzugeben – um Gesundheit zu fördern und diese zu erhalten.

Auf Grund meiner persönlichen Verbindung zu Lu Jong weiß ich diesen Vorgang zu schätzen und bedanke mich auf diesem Weg bei Loten Dahortsang für die intensive Ausbildung und ich bedanke mich bei Tulku Lobsang Rinpoche *Thamcho Nyima für den Schatz, den er damals mit meiner Mutter zusammen in mein Leben und in das Leben vieler anderer gebracht hat.

Möge Lu Jong vom Wind getragen, noch viele weitere Herzen berühren.